Tantra im Alltag
Autor: Amano
Die tantrischen Meister waren akribische Beobachter des Menschen und analysierten ständig, wie der Mensch tickt. Dabei gaben sie sich nicht damit zufrieden, was andere sagten, denn nur die eigene Erfahrung zählt. Diese Herangehensweise führte dazu, dass sie keine theoretischen, sondern nur praktische Lösungen fanden.
Micro-Meditationen
Da die meisten Tantriker ein erfülltes Leben im Kreis ihrer Familien bevorzugten (im Gegensatz zu den asketischen Yogis), waren sie auf der Suche nach Praktiken, die sie in ihr tägliches Leben integrieren konnten ohne große Einschnitte zu machen. Das war die Geburt der oder Micro-Meditationen, die überall und jederzeit praktiziert werden können.
Der flüchtige Geist
Der Geist ist sehr beweglich und trickreich und darf nicht zu etwas gezwungen werden, das zu lange dauert – denn dann entweicht er durch Träumereien, Gedanken und Ablenkung. Wenn wir versuchen, eine Stunde zu meditieren und davon sind fünfzig Minuten voller Gedanken und Ablenkungen, weil wir den Geist entgegen seiner Natur zum Stillstand gezwungen haben, dann ist das Ganze wenig effektiv. Also muss es eine Methode geben, die diesem flüchtigen Geist Rechnung trägt.
Die Tantriker haben eine Technik erfunden, die schnell geht und die so leicht ist, dass der Geist keine Zeit hat zu rebellieren. Man praktiziert sehr intensiv 10 bis 20 Sekunden und lässt dann wieder los. Dies kann man praktisch überall und jederzeit tun, z.B. beim Laufen, beim Essen und Trinken… ein paar Augenblicke vollkommen präsent sein in dem was man tut. Das sind die sogenannten Micro-Meditationen.
Ein Praxis-Beispiel
Du gehst von einem Zimmer in ein anderes. Normalerweise sind deine Handlungen automatisiert, schnell und unbewusst. Türklinke runter drücken, Tür aufmachen und schon bist du drin. Beim nächsten Mal veränderst du den ganzen Ablauf: du gehst auf die Tür zu, dein Fokus ist voll und ganz auf der Tür. Deine Schritte verlangsamen sich, im Zeitlupentempo bewegt sich deine Hand in Richtung Türklinke. Und jetzt passiert folgendes: dein Verstand fängt an zu rebellieren, er kommt völlig durcheinander, weil alles extrem langsam passiert. Er muss sich jetzt auf die Handlung konzentrieren! Es bleibt kein Raum, um an andere Dinge zu denken, er wird quasi zur Ruhe gezwungen und ist unter Kontrolle.
Probier es aus, jetzt gleich! Für ein paar Momente kannst du nicht denken. Jetzt spürst du die Klinke, du fühlst die Oberfläche, die Temperatur…. du drückst sie ganz langsam herunter. Tür auf, du gehst ganz bewusst in den anderen Raum. Jetzt erfasse diesen Raum mit allen deinen Sinnen, so als wenn du noch nie dort gewesen bist. Was siehst du? Was hörst Du? Was riechst du? Wie fühlt sich der Boden an auf dem du gehst?
Das Ganze hat nur ein paar Sekunden gedauert – ein Moment in vollkommener Präsenz. Ein paar Augenblicke ohne Gedanken. Das ist effektive Meditation! Und das Beste daran ist, dass du dir noch nicht einmal extra Zeit dafür nehmen musst, einen bestimmten Ort aufsuchen oder spezielle Vorbereitungen benötigst. Diese Kurz-Meditationen lassen sich überall und jederzeit praktizieren.
Ein weiteres Beispiel
Es gab Zeiten, in denen ich (Amano) ein ziemlich aggressiver Autofahrer war. Ich konnte beispielsweise kein Auto ertragen, das vor mir fuhr, weil es mich vermeintlich in meiner persönlichen Freiheit einschränkte. Deshalb war ich ständig am Überholen, damit ich wieder freie Fahrt hatte. Das ist lange her und heute weiß ich natürlich, dass diese unterschwellige Aggressivität nur ein Spiegel meines damaligen psychischen Zustands war.
Vielleicht erging es dir mal ähnlich: es ist Berufsverkehr, alle sind gehetzt, genervt und wollen nur noch nach Hause. Die Straßen sind verstopft und ständig ist irgend jemand am hupen, weil ein anderer wieder mal pennt oder die Vorfahrt genommen hat. Und jetzt ist auch noch Stau, nix geht mehr…
Früher hätte ich mich in diese negative Energie hineinziehen lassen, heute reagiere ich (meistens, smile) in einer solchen Situation ganz anders. Ich konzentriere mich für einen Augenblick dann voll und ganz z.B. auf mein Stirn-Chakra. Da ich durch unzählige Meditationen gewohnt bin, über das dritte Auge zu meditieren, funktioniert das schnell und leicht: der Blick wird weich und weitet sich und ich werde sinnbildlich in dieses Chakra hinein gesogen. Ich bin unmittelbar in einem anderen „Aggregats-Zustand“, ich bin jetzt zentriert und ruhig, der Kopf wird frei, ich bekomme einen Abstand zu dem Ganzen und nun bekommt die ganze Situation eine völlig neue Bewertung!
Heute nehme ich solche stressigen Situationen „sportlich“. Es gibt über den Tag gesehen wahrscheinlich mehrere davon. Wie ich in diesen und vergleichbaren Situationen reagiere, ist ein untrüglicher Indikator, wo ich als „bewusster“ Mensch stehe. Natürlich wird es immer wieder Ereignisse und Situationen geben, in denen ich unbewusst reagiere oder wütend werde… das ist völlig normal.
Bewusstsein
Wichtig ist nur, dass ich mir meiner Emotionen bewusst werde. Sie lösen sich dann meistens ganz von selbst auf! Auch hier geht es wieder um Loslassen. Es gilt, sich immer wieder daran zu erinnern, was man tun kann in solch einer Situation… und je häufiger das geschieht, umso automatisierter geschieht es, bis es zu einem ständigen Begleiter wird.
Leben im So-Sein
Diese und ähnliche Micro-Meditationen kannst du überall und jederzeit praktizieren ohne dass es jemand mitbekommt. Wenn du das zu einer Gewohnheit machst, wird dein Leben sich ändern, weil diese Methode so effektiv ist. Es wird nach und nach innere Ruhe einkehren, du wirst bewusster.
So einfach ist das! Wichtig ist nur die Kontinuität, das regelmäßige Praktizieren. Da ist nichts geheimnisvolles dabei und du brauchst keine radikalen Einschnitte in dein Leben zu machen. Wenn du einmal auf den Geschmack gekommen bist und selber erfahren hast, dass es funktioniert und was es bewirkt, dann wirst du vielleicht weiter gehen wollen. Die Micro-Meditationen können der Anfang deines Weges sein.